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Nicola Lauré al-Samarai: Interview


In wie fern nehmen sich Schwarze Deutsche als Deutsche wahr?

Schwarze Deutsche aller Generationen – ob sie vor oder nach 1945 geboren worden sind – nehmen sich als Deutsche wahr, auch wenn dies zuweilen nicht ganz einfach ist. Wir sind fast immer in deutschen Familien groß geworden, deutsch ist zumeist unsere Muttersprache oder die Sprache, mit der wir leben und in der wir uns artikulieren und unsere Präsenz in diesem Land ist kein historisches oder gegenwärtiges Novum. Aber noch immer trifft zu, was die afrodeutschen Autorinnen May Ayim und Katharina Oguntoye im Vorwort der ersten und bis heute bahnbrechenden Veröffentlichung Farbe bekennen. Afrodeutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte vor zwanzig Jahren konstatierten: „Unser unbekannter Lebenshintergrund und unsere Nichtbeachtung als Afrodeutsche sind ein Zeichen für die Verdrängung deutscher Geschichte und ihrer Folgen.“

Individuelle Vereinzelung und gesellschaftliche Ignoranz stellen maßgebliche strukturelle Gegebenheiten dar, die es vielen Schwarzen Deutschen sehr schwer machen, sich mit ihrer Geschichte auseinandersetzen und jenseits eines dominanten Wahrnehmungsrahmens auf selbstbestimmte Positionierungen zurückgreifen zu können.

Allerdings hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten auch eine Menge zum Positiven verändert. Ich denke, dass insbesondere die Selbstorganisation von Schwarzen deutschen Frauen und Männern, die politische Bewusstseinsarbeit, die konsequente Aufarbeitung von Schwarzer Geschichte in Deutschland, die Einbringung kritischer Schwarzer Perspektiven in akademische und öffentliche Diskurse und nicht zuletzt das kreative Potential von KünstlerInnen und AutorInnen dazu geführt haben, dass das rassistische Konstrukt, Deutsch-Sein und Weiß-Sein wären identisch und Schwarze könnten keine Deutschen sein, heute nicht mehr haltbar ist. Die Realität ist ganz einfach eine andere, und es gibt immer mehr Schwarze Stimmen in allen gesellschaftlichen Bereichen, die diese Realität unmissverständlich kommunizieren.


Wie werden Schwarze Deutsche von der weißen Bevölkerung wahrgenommen, und in wie fern gibt es einen Unterschied zwischen der ehemaligen BRD und DDR?

Die Wahrnehmung Schwarzer Menschen durch die weiße Mehrheitsbevölkerung ist – auch wenn sich viele dessen nicht bewusst sind – sehr grundlegend durch Blick-Verhältnisse bestimmt, die in kolonialrassistischen Traditionen wurzeln. Im Grunde ist es wie eine Art Matrix, die sich durch die mediale Wiederholung von stereotypen Images, durch eine exklusive und hierarchische Wissensproduktion, durch rassifizierende Ausgrenzungen oder Aneignungen und natürlich durch die Vermarktung von vermeintlich „fremder Exotik“ immer wieder neu konstituiert.

Unverblümt indiskrete Fragenkataloge, die beginnen mit: „Wo kommst du her?“ und enden mit: „Wann gehst du wieder zurück?“ sind ein wichtiges Indiz dafür, dass Schwarze Deutsche noch immer ganz buchstäblich als „Fremdkörper“ wahrgenommen werden. Diese Wahrnehmung kommt nicht von ungefähr. Sie ist ein Widerhall, ein gebrochenes Echo von Diskussionen über den Charakter einer nationalen Identität, die vom 19. Jahrhundert bis zum Ende des Nationalsozialismus von immer extremeren völkisch-rassischen Argumentationsmustern begleitet war. Rassismus, Antisemitismus und andere Formen rassifizierter Ausgrenzung sind – das zeigt die deutsche Geschichte – nicht nur Ideen. Sie eröffnen den Raum für entsprechende Praxen, sie wurden und werden an Menschen ausagiert.

Natürlich redet man heutzutage nicht mehr von einem völkischen Nationsbegriff, aber wenn man sich beispielsweise die derzeitigen Auseinandersetzungen zu diesem Thema vor dem Hintergrund der öffentlichen Migrationsdebatten anschaut, kann man ohne weiteres zu dem Schluss kommen: Wer Deutscher ist, entscheidet das Blut. Oder, etwas netter formuliert, die ethno-kulturelle Zugehörigkeit.

Die Infragestellung eines rassifizierten Nationsverständnisses hat weder in der ehemaligen DDR noch in der BRD wirklich stattgefunden. Insofern ist es nur wenig verwunderlich, dass trotz der unterschiedlichen politischen Systeme Schwarze deutsche Alltage in Ost und West von sehr ähnlichen Erfahrungen geprägt sind. Diverse Autorbiographien, die in den letzten Jahren erschienen sind, geben darüber beredt Auskunft.

Ist das Thema „Deutschland und seine Kolonialgeschichte“ ein Thema in der öffentlichen Diskussion?

Die deutsche Kolonialherrschaft ist ein noch immer weitestgehend verdrängtes historisches Phänomen, wofür es verschiedene Gründe gibt. In der öffentlichen Diskussion spielte sie nur kurz eine größere Rolle, als sich 2004 der Aufstand der Herero und der nachfolgende, von den Deutschen verübte Genozid zum einhundertsten Mal jährte. Obwohl dies eine angemessene Gelegenheit gewesen wäre, sich nicht nur mit den historischen Fakten, sondern auch mit tradierten ideen- und kulturgeschichtlichen Dimensionen der deutschen Kolonialgeschichte auseinanderzusetzen, wurde diese nicht genutzt. Im Gegenteil: erst vor kurzem strahlte das ZDF die dreiteilige Dokumentation „Deutsche Kolonien“ aus, die vor kolonialem Kitsch nur so strotzte und alle vorstellbaren Klischees bediente. Die erinnerungspolitische Salonfähigkeit solcher Machwerke spricht für sich.

In Frankreich herrscht derzeit eine Diskussion, die anlässlich eines Gesetzes entfacht wurde, das im Februar 2005 erlassen wurde, welches besagt, die Kolonisierung durch Frankreich habe eine positive Rolle gespielt. In wie weit können die Politiker bestimmen, was eigentlich Sache der Historiker wäre? Nimmt man diese Diskussion in Deutschland wahr?

Diskussionen, in denen sich ehemalige Kolonialmächte als „zivilisatorische Heilsbringer“ zu rehabilitieren versuchen, gibt es nicht nur in Frankreich. Der neokoloniale Impetus, der sich dahinter verbirgt, die Verweigerung von historischer Verantwortung und die Leugnung von kolonialen Verbrechen sind der gegenwärtige Ausdruck eines noch immer imperialen westlichen Selbstverständnisses. Nur wer glaubt, eine „Mission“ erfüllen zu müssen im Dienste einer etwas eng gefassten „Menschheit“, zu denen die BewohnerInnen außerhalb Europas nicht erst seit der Aufklärung nur sehr bedingt zählen, kann sich darüber Gedanken machen, ob die „Mission“ gescheitert oder erfolgreich war.
In welcher Weise die zahlreichen kolonialen Besetzungen, die mörderischen „Befriedungen“, die kulturellen und materiellen Enteignungen und nicht zuletzt die vielen Toten zu werten sind, sollte vor allen Dingen denjenigen überlassen sein, die dies erlitten haben und damit leben müssen. Sie in gleichberechtigter Weise zu Wort kommen zu lassen, ihren Gegengeschichten und Gegenerinnerungen zuzuhören und sich damit auseinanderzusetzen – darin sehe ich sowohl die Aufgabe von Politikern als auch von Historikern. Es gilt noch immer als Norm, dass weiße EuropäerInnen oder AmerikanerInnen die Geschichte „der Welt“ bewerten und mit der Selbstverständlichkeit ihrer globalen Definitionsmacht entsprechend gut leben können. Aber die Zeiten ändern sich. Und wer – wenn man sich diese Frage überhaupt stellen sollte – in der Geschichte eine „positive“ Rolle gespielt hat, wird erst dann zu diskutieren sein, wenn alle darin Verwickelten das Recht haben zu sprechen und ihre Versionen darzulegen. Alles andere ist ein zynischer imperialer Monolog.


Die Fragen stellte SH.


Schwarze Menschen im Nationalsozialismus
Auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung können Sie einen interessanten Text von Frau Nicola Lauré al-Samarai lesen, sowie Informationen zu ihrer Person: http://www.bpb.de/themen/BSHO5D,0,0,Schwarze_Menschen_im_Nationalsozialismus.html



Update: 24/01/06 | Zum Seitenanfang |


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